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Name des Projekts: Jugendprojekt: In Your Shoes
Träger: bsj Marburg
Ort: Landkreis Marburg-Biedenkopf
Zeitraum: September 2020

„In your shoes“ –aus einem „misch mit!“-Projekt wird ein Markenzeichen

„Beurteile einen Menschen erst, wenn du 1000 Schritte in seinen Schuhen zurückgelegt hast“ – so etwa lautet das Sprichwort, das dem „misch mit!“-Projekt „In your shoes“ den Namen gegeben hat. Entstanden ist „In your shoes“ im Herbst 2020 aus dem Work-Flow einer Schulklasse im Wahlpflichtunterricht (WPU) Gesundheit und Soziales an den Beruflichen Schulen in Kirchhain. „Im WPU gestalten wir, was Jugendliche sich wünschen“, sagt Schulsozialarbeiterin Anja Kühnert (bsj Marburg). Und die wünschten sich ein Projekt zum Thema Obdachlosigkeit.
Die Schüler*innen überlegten sich, was sie für Menschen ohne festen Wohnsitz tun könnten und was diese bei sich abkühlenden Temperaturen in diesen Krisenzeiten wohl dringend bräuchten. Schnell waren sie bei warmer Kleidung angekommen – und bei festen Schuhen. Mit selbst gestaltete Plakate riefen sie unter anderem am Lehrer*innen-Zimmer zu Kleiderspenden auf – mit einem Logo, das einen Schuh in einem Herzen zeigt.

Da war der Schuh längst nicht mehr nur ein Schuh, sondern zum Symbol geworden für den Versuch, die Perspektive zu wechseln, empathisch zu sein, den Blickwinkel der Anderen, der Obdachlosen einzunehmen, ein Stück des Wegs in ihren Schuhen zu gehen. „Der Schuh ist auch ein Symbol dafür, dass wir einen Schritt aufeinander zugehen, um die Menschen aus ihren Schubladen zu holen“, sagt Anja Kühnert. Für sie ist „In your shoes“ längst nicht mehr nur ein Projekt, sondern ein mehrjähriges Konzept, ein Markenzeichen, unter dem sie künftig auch andere Jugendarbeits-Projekte laufen lassen will.
„Jugendliche werden oft unterschätzt“, betont die Schulsozialarbeiterin, „ihnen wird unterstellt, dass sie kein Interesse an sozialen Themen hätten.“ Das Projekt „In your shoes“ spricht gegen dieses Vorurteil: Die Schüler*innen informierten sich im Internet über Hilfseinrichtungen für Obdachlose in Marburg. Sie sahen gemeinsam einen Film zum Thema Obdachlosigkeit und bemerkten begeistert, dass dieser Film die Menschen ohne Wohnsitz auf Augenhöhe filmte, nicht von oben herab, wie sie erwartet hätten.
„Es war für alle selbstverständlich, dass Obdachlose gleichwertig sind.“ Regelrecht geschockt waren die Schüler*innen, als sie hörten, dass Wohnsitzlose in der Notunterkunft für ein Mittagessen 1,50 Euro bezahlen müssen. „Das kam ihnen sehr viel vor“, sagt Anja Kühnert, „obwohl sie selbst ja schnell mal 1,50 Euro für einen Cookie oder eine Cola in der Cafeteria rausdonnern.“ So entstand eine zweite Projektidee.

Eine Gruppe Schüler*innen kochte und backte in der Adventszeit einen Nachmittag lang direkt nach dem Unterricht bis 19 Uhr für die Notunterkunft der Obdachlosen. Menschen ohne Wohnsitz sollten wenigstens an diesem einen Tag nichts fürs Mittagessen zahlen müssen. Die Koch- und Backaktion war möglich, weil an den Beruflichen Schulen in Kirchhain das Fach Ernährung unterrichtet wird. Das war eine Voraussetzung dafür, dass die Notunterkunft die Mahlzeit annehmen konnte. Eintopf, Brot, Muffins, alles wurde einzeln verpackt, wie es die Hygienevorschriften in Pandemiezeiten erforderlich machen.
„Ein Mann war überglücklich, weil er an diesem Abend etwas essen konnte, obwohl er eigentlich nicht genug Geld für eine Mahlzeit hatte“, erinnert sich Anja Kühnert. Das war für sie einer der vielen Gänsehautmoment bei „In your shoes“. Als nächsten Schritt wollen die Jugendlichen an ihrer Schule ein Pfandflaschensammelsystem einführen und eine Spendenbox aufstellen. „Jedes Mal, wenn 140 Euro zusammenkommen, wollen sie die Notunterkunft für Obdachlose bekochen“, erklärt Anja Kühnert.
Kurz vor Weihnachten schließlich wendeten die Schüler*innen die Idee des empathischen Perspektivwechsels von „In your shoes“ auf Menschen im Altersheim Rauschenberg an: Weil sehr viele der alten Menschen in Zeiten der Pandemie gerade keine Besuche bekommen konnten, bastelten die Jugendlichen einen Nachmittag lang Weihnachtskarten, die über die Heimleitung und die Pfleger*innen an die Bewohnenden verteilt wurden. „Schade ist nur, dass den Jugendlichen durch die Abstandregeln im Moment die direkte Wertschätzung verwehrt bleibt“, sagt Anja Kühnert. Denn das ist für sie einer der Schlüsselbegriffe zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Anderen und eine der Voraussetzungen dafür, dass Schüler*innen sich immer wieder von Neuem auf empathische Perspektivwechsel einlassen. (ybo)