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Name des Projekts: NSU Monologe
Träger: bsj Marburg / misch mit!
Ort: Marburg
Zeitraum: 2019

NSU-Monologe in Marburg

Im Juni 2019 hat misch-mit! zusammen mit dem „Beratungsnetzwerk Hessen“ die NSU-Monologe der „Bühne für Menschenrechte Berlin“ nach Marburg geholt – als Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit. „2018 wurde das Urteil gegen Beate Zschäpe vom rechten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) verkündet, bis dahin waren die rechtsextremen Morde allgegenwärtig in den Medien“, sagt Pia Thattamannil, die das Projekt misch mit! beim bsj Marburg koordiniert, „unser Gedanke war, das Thema darüber hinaus in Erinnerung zu halten und erneut in die öffentliche Diskussion einzubringen.“ 

Die NSU-Monologe erzählen von den jahrelangen Kämpfen dreier Familien, deren Angehörige zu den zehn Opfern der Mordanschläge des NSU gehören. Die Ehemänner von Elif Kuba??k und Adile ?im?ek, und der Sohn von Îsmail Yozgat wurden von dem NSU-Terror-Trio bestehend aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ermordet. Später ermittelte die Polizei aber gegen die Opfer und deren Familien. Die Ermittler vermuteten einen bandenkriminellen Hintergrund, Rechtsextremismus als Tathintergrund schlossen sie dagegen von vornherein aus.

Die NSU-Monologe rekonstruieren die Erinnerung der drei Opferfamilien an die geliebten Menschen, den Schmerz über ihren Verlust und die nachfolgende Demütigung durch die beschämenden Verdächtigungen der Polizei. Als dokumentarisches Theater halten sich die NSU-Monologe wortgetreu an die Aussagen der befragten Opferfamilien, sie kürzen und verdichten diese, aber sie bemühen sich darum, sogar den Sprachduktus der Angehörigen nachzuempfinden. Damit dokumentieren sie deren bitteren Kampf um Wahrheit.

„Wir hatten im KFZ etwa 90 Besucher*innen bei den NSU-Monologen. So viele Besucher*innen hatten wir bisher bei keiner Veranstaltung“, sagt Pia Thattamannil. Sie hält es für wichtig, dass es künstlerische Formate wie die NSU-Monologe gibt, da sie aus ihrer Sicht die Erinnerung an die NSU-Opfer wirksamer wachhalten als juristische Einlassungen. „Sie können uns anders berühren als Urteilssprüche“, betont die misch mit!-Koordinatorin, „indem sie auch Lebensereignisse der Opfer vor dem Attentat rekonstruieren und so im Nachgang deren Menschenwürde wiederherstellen.“ Außerdem verleihen sie den Angehörigen ein Antlitz. Und sie machen Ungeheuerlichkeiten der damaligen Ermittlungen sichtbar.

„Von heute aus erscheint es beispielsweise undenkbar, dass ein derart diskriminierender Begriff wie Döner-Morde im öffentlichen Diskurs benutzt wird“, ist Pia Thattamannil überzeugt. Der Ausdruck, der damals in den Medien für die NSU-Attentate kursierte, spiegelt die rassistische Denkweise der Ermittler*innen, aber auch der Journalist*innen wider. Sie waren überzeugt, dass es sich bei den Morden um einen Bandenkrieg im türkisch-kurdischen Einwanderungs-Milieu handelte. Daraus erklärt sich das spätere Misstrauen der Angehörigen in die Sicherheitsbehörden, den aus ihrer Sicht erlebten Vertrauensbruch.

Besonders auf diesen Punkt kamen die Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion im Anschluss an die Aufführung immer wieder zu sprechen. „Zu den NSU-Monologen gehört immer auch eine Diskussion, die zivilgesellschaftliche Initiativen ins Boot holt, um an der Erinnerungsarbeit vor Ort mitzuwirken“, berichtet Pia Thattamannil. In Marburg diskutierten mit dem Publikum die Anwältin Seda Ba?ay-Y?ld?z als Vertreterin der Angehörigen von Enver ?im?ek und Ay?e Güleç, eine Aktivistin der Initiative 6. April, die an die Ermordung von Halit Yozgat in Kassel erinnert.

Beide betonten, dass im Prozess einige Fragen der Angehörigen noch immer nicht abschließend beantwortet werden konnten. Ungeklärt ist zum Beispiel, in welchem Umfang hinter dem NSU-Terror-Trio ein rechtes Netzwerk aktiv war und welche Rolle der Verfassungsschutz dabei spielte. „Ohne Netzwerk sind die Morde eigentlich nicht denkbar“, sagt Pia Thattamannil, „der Prozess konnte diese Frage aber nicht klären und die Verbrechen insofern auch nicht lückenlos aufklären.“ Außerdem war mit Andreas Temme ein Angehöriger des Verfassungsschutzes anwesend, als Halit Yozgat 2006 in Kassel in seinem Internetkaffee erschossen wurde. Temme ist nach wie vor auf freiem Fuß und die NSU-Prozessakten sind unter anderem wegen der sehr wahrscheinlichen Beteiligung des Verfassungsschutzes für 120 bzw. 70 Jahre gesperrt. „Wie sollen diese Verbrechen aufgeklärt werden, wenn sich der Staat dieser Aufklärung offen entgegenstellt?“, fragt Pia Thattamannil.

Dennoch habe sich die Stimmung geändert, räumt die misch mit!-Koordinatorin ein, immerhin werde heute in der Politik offener darüber diskutiert, ob es rechte Strukturen in der Polizei gebe. Auch der empathischere Umgang mit den Angehörigen der Opfer des rechten Attentats in Hanau zeige, dass Lehren aus den NSU-Morden und dem Umgang damit gezogen worden seien. (ybo)